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Torsten Neuendorff studierte Kommunikationswissenschaften
und lebt und arbeitet in Berlin
Torsten Neuendorff
Er wollte das Foto zum Bild komprimieren: Roger Lips
Die Fotos von Roger Lips müssen als Experimente verstanden werden. Ein
Experiment erfordert eine Anordnung: den Experimentator, eine Handlung und
ein Objekt. Man stelle sich also vor, wie Lips unter der Lupe auf einem Negativ
über Gesicht und Augen kratzt, z.B. für das Bild "ohne Titel" von 1985.
Für jeden Betrachter bleibt später sichtbar, wie Lips auf der Ebene der Zeichen, der
Zeichnung, gehandelt hat. Immer wieder ließ er Chemikalien die
Bildoberfläche zerfressen. Wo mag für ihn die Grenze gewesen sein: Hatte er
noch ein zweites Negativ für einen zweiten Versuch? Konnte er den Verlust
und die vollständige Zerstörung des Negatives im Schaffensprozeß riskieren?
Stehen die malerisch-experimentellen und fotografischen Anteile bei seinen
Fotoarbeiten in einem Verhältnis? Was bringt den Maler Lips dazu, nicht auf
Leinwänden, sondern auf Fotos zu malen? Was zwingt den Fotografen Lips,
seine fotografischen Vergrößerungen aufwendig zu überarbeiten?
o.
T., 1985 |
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Wie bei allen offenen Experimenten wächst die Zahl der Variablen schnell ins
Unendliche. Für ein Bild kombinierte Lips solange Techniken der Nachbearbeitung
und Reproduktion, bis Motiv und dessen Bearbeitung fast eins wurden. Warum?
Fotografie ist das Medium der Distanz: Der Film muß vor Licht geschützt
werden, die Linse soll nicht angefaßt werden, das Objekt muß weit genug
entfernt sein, um überblickt werden zu können... Aber Lips schaut auf
seine Bilder und arbeitet darin und schaut und arbeitet wieder und archiviert
die Zwischenstufen. In der Manipulation des Fotos sah Lips das Mittel,
um zu einem guten Bild in seinem Sinne zu gelangen; er erzeugte Farbe,
Kontur, Komposition und Textur. Bei seinem Tod im zweiundvierzigsten Lebensjahr
besaß Lips ein umfangreiches Archiv mit Fotos in verschiedenen Stadien
des Experimentierens. Da gibt es Fotos, die sich nur in Nuancen voneinander
unterscheiden. Es gibt vorbereitete Serien. Da gibt es hunderte Diaschnipsel
mit verschiedensten Fotografien - gewissermaßen von Lips als Rohmaterial
gebraucht. Da gibt es Probeaufnahmen für neue Projekte.
Das gegenständliche und beschreibbare Foto - Kopf, Mann, Gruppe - tritt
bei Lips im doppelten Sinne des Wortes in den 'Hintergrund'. Sehr schwer
ist es, für den 'Vordergrund', also die Bearbeitung, eine Benennung zu
finden. Man kommt auf abblätternde Farbe. Manchmal wirkt der Vordergrund
wie zerrissen. Hartes, verstreutes Licht überlagert das Foto. Dieser 'Vordergrund'
muß für Lips aber eine große Bedeutung besessen haben, sonst hätte er
beispielsweise für die Serie Köpfe (SB 08 - SB 016) nicht sorgsamst jeweils
unterschiedliche Formen der Bearbeitung ausgewählt. Lips läßt zeitweilig
sogar den 'Hintergrund' ganz weg und präsentiert freie Farbarbeiten. (SB
040) Die intensive Farbigkeit seiner Bilder ist künstlich produziert.
Welche Farben innerhalb eines Bildes aufeinandertreffen, hat er bestimmt.
Wären Lips' Bilder Musik, so wäre diese Gruppe der bearbeiteten Fotos
so etwas wie Free Jazz, eine Jam Session.
o.T.,
1985/91 |
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Mit dem Ende der 80er Jahre vollzogenen Wechsel hin zu neuen fotografischen
Methoden (siehe Werkgruppen-Verzeichnis) gelingt ihm 1988 eine sehr typische
Arbeit (SB 057/01), die geeignet ist, frühere und nachfolgende Themen
sowie Techniken zu verstehen. Diese Arbeit heißt 'Tryptique': Im Mittelteil
ist oben eine Zeichnung, die fotografisch in ein Negativ verkehrt ist.
Die unteren zwei Drittel nimmt eine Farbfotografie ein. Der rechte und
linke Teil sind Streifen belichteten Fotopapiers. Schwarz ist die dominierende
Farbe - als Hintergrund der Zeichnung und bei den bildwichtigen Teilen
der Fotografie. Die Fotografie zeigt das verschattete Gesicht eines dunkelhaarigen,
jungen Mannes. Konzeptuell hat Lips alles eingesetzt, was ihm stets wichtig
war: Die Zeichnung ist so flüchtig, daß sie figürlich wie ein Penck-Bild,
aber auch als völlig ungegenständlich gelesen werden kann. Die Fotografie
ist mehrfach reproduziert, so daß sich im unteren Teil sichtbare Interferenz-Streifen
gebildet haben, alle Konturen sind entschärft.
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o.T., 1988 |
Mit ähnlichen Bildstrategien operierte Lips häufig. Techniken, die er
sonst überlagerte, stehen hier in Beziehung zueinander. Der Effekt ist
intensiv. Wenn man bereit ist, sich von der Meinung zu trennen, daß Lips'
Bilder in der Tradition psychologischer Porträts stehen oder gar
Hommagen an reale Liebhaber sind, ergibt sich ein Reichtum möglicher Interpretationen:
christlich, psychoanalytisch, erotisch... Das Bild erscheint als Sehnsuchtsmotiv:
das zugewandte Gesicht, das nicht auszumachen ist, das Leuchten in den
Haaren, die Ähnlichkeit des Triptychons mit einem Flügelaltar, obwohl
die Seitenverhältnisse verkehrt sind. Nach längerer Betrachtung könnte
die Bildbedeutung kippen, weil Dunkelheit auch Gefahren birgt und ein
Gesicht auch diabolische Züge annehmen kann. Primär jedoch löst das Sujet,
ein konventioneller Männerkopf, Sympathie beim Betrachter aus. Es ist
unerheblich, ob das Bild aus einer Zeitschrift stammt, Schnappschuß aus
dem Alltag oder Erinnerungsbild an einen Freund ist.
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o.T. (Rolf), 1992 |
Wie es im Film üblich ist, so könnte man Lips' Vorgehensweise als ein
'typecasting' bezeichnen, d.h., ein Schauspieler wird für die Rolle besetzt,
wenn er von vornherein der Rolle entspricht oder, noch besser, wenn er
überhaupt nur bestimmte Rollen spielt. Welche Rolle spielt also das Motiv?
Es ist immer noch ein junger, schlanker, hübscher Mann zu erkennen, gleichgültig
wie sehr das Bild später überarbeitet wird. Es ist nicht einmal zu entscheiden,
ob die Überarbeitung eine Schönheit heraufbeschwört, die der Fotografierte
im Alltag gar nicht besitzt. Dieser Überlegung folgend können Lips' Bilder
kaum ein Resümee der Lebensentwürfe oder der Individualität der Fotografierten
sein. Lips entscheidet, was an einem Kopf, einem Gesicht schön und wichtig
ist, und paßt es in sein Bild ein. Wie bei vielen anderen Fotografen reichte
dafür auch eine Skulptur, ein Fernsehbild oder eine Werbeanzeige. Wenn
das Bild also als Sehnsuchtsmotiv erscheint, muß man bedenken, daß es
ein ihm Unbekannter ist, auf den Lips seine Hoffnung richtet. Formal reiht
sich das beschriebene Triptychon bewußt in die Tradition des Tafelbildes
ein. Aber es ist nicht zu übersehen, daß die ästhetische Wirkung stark
grafisch ist, wie bei einem Poster oder einer Anzeige. Es sind Bilder
erhalten, die mit denselben Mitteln spielen. Lips hat diese Fotos in Serien
und Tableaus präsentiert. Aber die Ergebnisse wirken seltsam unentschieden:
Variation, Steigerung oder Addition hat er nur ansatzweise zu seinem Konzept
gemacht. 'Was paßt, was stört?' Vielleicht war ihm als Fotograf die künstlerische
Antwort auf diese Fragen schwergefallen, vielleicht kann sie erst der
Betrachter geben.
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o.T., 1985/88 |
o.T., 1986/88 |
Etliche seiner Diptychen aus ungegenständlichem Bild und Portrait beziehen
genau daraus ihre Spannung. Zurecht ist darauf hingewiesen worden, daß
sich die Bedeutung einzelner Bilder bei Lips erst in der Zusammenschau
mit anderen ergibt. Um diese Lesart zu fördern, hat Lips seine Bilder
bei Ausstellungen sorgsam gruppiert (vgl. Reinhold Mißelbeck und Diptychon
SB 063 und SB 064).
o.T.,
1985/86 |
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Das fotografische Werk von Lips entwickelte sich in den zehn Jahren
von 1984 bis 1994, in der Zeit der konservativen Regierung Reagans in
den USA und Kohls in Deutschland. Lips hat sich nicht gescheut, in Gesprächen
auf Unzufriedenheit mit seinem Leben und mangelnden künstlerischen Entfaltungsspielraum
hinzuweisen. Dies mag zunächst erstaunen, wenn man an seine künstlerischen
Arbeiten denkt. Man muß wissen, daß Lips zutiefst philosophisch über die
Kraft von fotografierten Bildern nachdachte, so zum Beispiel, ob die Fotografie
auf der Ebene der Gedanken anzusiedeln sei (vgl. Manfred Geisler). Insofern
sind seine Bilder nie ein momentaner Akt des Protests - wie es ein vulgäres
oder obszönes Bild es manchmal leistet. Die Debatten um Pornographie und
AIDS hat er nicht zu einem persönlichen Befreiungsschlag genutzt, anders
als beispielsweise die Sängerin Sinead O'Connor, die ein Bild des Papstes
zerriß - und dafür hinnehmen mußte, daß Katholiken eine Dampfwalze über
ihre CDs rollen ließen; oder der Fotograf Robert Mapplethorpe, der den
Männertyp, auf den er fixiert war, von der Kunstwelt bewundern ließ -
Amerikas Konservative aber zogen in der Folge die staatliche Kunstförderung
von kontroversen Ausstellungen ab. Vorsichtig hat Lips versucht, seine
Arbeiten zu kleinen Kommentaren zu machen. Zum Beispiel mit den Fotos
von Marky Mark, dessen damaligen Video-Clip er abfotografierte. Im Rückblick
läßt sich erahnen, daß Lips die Zeichen der Zeit erkannte, als es plötzlich
möglich wurde, daß ein Weißer die Rapper-Attitüde propagiert, ein Jugendlicher
sich die körperliche Präsenz eines Muskelmannes antrainiert und auf dem
Musiksender MTV die Kamera einen Jungen mit kurzgeschorenen Haaren und
ausgezogenem T-Shirt umkreist. Aber von allen möglichen Positionen entschied
sich Lips hier für die Medien-Reflexion und präsentiert dementsprechend
einen Bildteppich und eine lange Reihe einzelner Kleinbildnegative.
Lips hatte sehr wohl das fotografische Talent für erotische Bilder. So verwandte
er Aktfotos, die einen muskulösen Mann auf einem mit schwarzem Leder verhüllten
Sofa zeigen, für das Tableau SB 232/01 (Rolf). Aber daß Lips 16 Bilder
statt einem zeigt, verleiht der Situation keine Steigerung der Erotik,
sondern macht sie sachlicher. Der Gebrauch als 'Pin-Up' wird unmöglich.
o.T.
(Frank und Karl Osswald), 1991 |
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Bei Bildern nackter
Paare greift er Momente heraus, die nicht zufällig, sondern choreographiert
erscheinen. Eine kurze Szene, in der ein Ledermann seinem Lover plötzlich mit schweren Stiefeln in den Bauch tritt, hätte Mapplethorpe vielleicht in der
existentiellen Spannung aus Sex und Brutalität im Bild gebannt. Lips ging
in seinen Arbeiten einen anderen Weg. Angesichts von AIDS hielt Lips ein
größeres Maß an Zuwendung und Zärtlichkeit beim Safer Sex für erforderlich.
Plakativ machte er das als Kritik an schwulen Männern deutlich.
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conserver sex links = oben
sowie als auch unten = conserver sex rechts, 1992 |
Bei Lips besteht eine Übereinstimmung zwischen seinen Ideen, wie sie sich
etwa in dem Ausstellungstitel 'zwischen oben als unten' ausdrücken, und
seiner künstlerischen Strategie: Ist ein Bild inszeniert, kann die
Fotografie abbildend sein. Ist ein Bild sehr klein, kann der Rahmen opulent
sein. Ist ein Motiv sehr eindeutig, kann die Bearbeitung wild sein.
Torsten Neuendorff, April 1999
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