Dr. Reinhold Mißelbeck ist Leiter der photographischen Abteilung im Museum Ludwig in Köln. Der folgende Text wurde in der Erstfassung als Statement zu einer Bewerbung Lips' um ein Stipendium der Krupp-Stiftung verfaßt. Um den letzten Absatz gekürzt (wie hier vorliegend) war er Katalogtext zur Ausstellung "Wandlungen einer Doppelnatur" 1986 in Köln. Zum gleichen Zeitpunkt kaufte das Museum einige Arbeiten von Lips an.

Dr. Reinhold Mißelbeck

Roger Lips' Photographien

Die Photographien von Roger Lips bestechen durch ihre vielfältigen Ansätze, ein Problem anzugehen. Sie vereinen eine Porträtserie, eine Reihe von Alltagsszenen sowie eine Folge von nahezu abstrakten Farbkompositionen, die auf den ersten Blick wie drei unterschiedliche Themen und Arbeitsweisen wirken, dem Betrachter jedoch nach längerer Beschäftigung als dreierlei visuelle Manifestationen ein und desselben Problemansatzes bewußt werden.

Die Porträts sind farblich verändert, auf dem Negativ zerkratzt und überzeichnet, sie bezeichnen kein Individuum mehr, sondern Typen und Charaktere. Sie tauschen den Verlust an Individualität ein gegen das Prinzip des Déjà-vu, das vermeintliche Wiedererkennen einer Person, einer Mimik, eines Ausdrucks, der vertraut scheint. Jedem ist dieser Mechanismus bekannt. Ist unser Urteil über Menschen doch bei der ersten Begegnung stark geprägt von Details des Wiedererkennens physiognomischer Einzelheiten, bestimmter Bewegungen, von Mimik und Verhaltensweisen, die uns von anderen uns bekannten Personen bereits vertraut sind.

Jedoch sind die Veränderungen der Gesichter in Roger Lips´ Bildern nicht nur der Entindividualisierung dienlich, sie dienen darüber hinaus der Zeichnung und Überzeichnung dessen, was der Künstler als charakteristisch und bezeichnend in ihnen erkannt hat.

Auch die Photographien von Menschengruppen in vage definierbaren Räumen zielen in die selbe Richtung. Die Konkretheit der Situation ist durch die Unschärfe der Aufnahme, durch Überlagerungen und farbliche Veränderungen eliminiert.

Aus einem Augenblick, den die Kamera festhielt, wird eine menschliche Situation, etwas Absolutes, das Dauer und Gültigkeit besitzt. Anders als in den Porträts ist es hier das Environment, die Befindlichkeit in Räumen und in Gesellschaft anderer, die die Personen definieren. Die letzte Gruppe der abstrakten Photos scheint in besonderer Weise aus dem Thema herauszufallen. Man denkt zunächst an Heinz Hajek-Halke, Chargesheimer oder Manfred Kage. Doch Ausgangspunkt für jedes dieser Bilder ist ein Porträt, dem durch unterschiedliche Manipulationen ein neues Environment, eine neue Gestalt gegeben wurde. Sie sind als die Antithese zu den vorhergehenden Gruppen zu sehen, in denen das menschliche Gesicht unter der Schicht der individuellen Bearbeitung des Künstlers nur noch zu ahnen ist.

Gerade hier wird deutlich, daß der Kontext der drei Gruppen erforderlich ist, um das Einzelbild richtig zu deuten. Isoliert gesehen könnte man dazu neigen, allzuleicht Parallelen zu anderen zeitgenössischen Ansätzen zu ziehen. In der Zusammenschau erläutern sich die drei Darstellungsweisen gegenseitig und fügen sich so zum Ganzen.